1895 – 1898 Henri Meyrat

Bericht über den religiösen, kirchlichen und sittlichen Zustand der evang.-reform. Kirche des Kantons Bern während der Jahre 1894 – 1898. Im Namen des evangelisch-reformierten Synodalrates erstattet durch H. Meyrat, Pfarrer in Renan, 118 Seiten.

Dem sechsten Vierjahresbericht lässt sich entnehmen, welche Fragen der Synodalrat an die Kirchgemeinden und Pfarrämter gestellt hat. Sie werden vom Berichterstatter im Wortlaut zitiert.

1. Frage: Wie urteilen Sie über das religiöse Denken und Leben Ihrer Gemeindegenossen, soweit es zu Tage tritt? Sind Ereignisse eingetreten oder geistige Strömungen aufgekommen, welche dasselbe stark beeinflusst haben und in welchem Sinn? Da ist wohl die Rede vom Vorhandensein antikirchlicher Theorien, zur Beantwortung der gleichen Frage hinsichtlich des religiösen Denkens und Lebens werden aber auch wirtschaftliche Faktoren aufgeführt wie die Bedeutung der Viehzucht oder der Einfluss des Fremdenverkehrs.

2. Frage: Zeigen sich im religiösen Leben aussergewöhnliche Erscheinungen? Wie steht’s namentlich mit dem Sektenwesen? Zunächst hält sich der Berichterstatter kritisch auf über die Anwendung des anrüchigen Wortes "Sekte" und plädiert für eine Haltung der Toleranz und Gleichberechtigung aller religiösen Gruppen untereinander. Diese werden im Einzelnen dann auch aufgezählt und beschieben, wobei den grössten Raum die Evangelische Gesellschaft einnimmt. Spezielles scheint sich kaum ereignet zu haben.

3. Frage: Was geschieht zur Hebung und Stärkung des religiösen Lebens? Antwort: Bibelverbreitung, religiöse Zeitschriften, gute Bücher, Seelsorge, Bibelstunden und dergleichen. Erwähnenswert, dass auch an dieser Stelle nicht nur die kirchliche Tätigkeit gewürdigt, sondern beispielsweise auch die Bedeutung der Volks- und Schulbibliotheken hervorgehoben wird. Soviel zum religiösen Leben. Zum kirchlichen Leben wird als erstes gefragt:

1. Frage: Scheint Ihnen in den letzten vier Jahren die Stellung und das Ansehen der Kirche und ihrer Institutionen im Volksbewusstsein gekräftigt oder geschwächt worden zu sein? Hier vernehmen wir, wie das gesellschaftliche Umfeld die Kirche einschätzt, die Presse beispielsweise, die Arbeiterbevölkerung, was man vom Synodalrat und seinen Verlautbarungen hält. Ein kurzer Abschnitt ist den Kirchenaustritten gewidmet.

2. Frage: Welches sind die grössten Gefahren für eine erspriessliche Wirksamkeit der Kirche? Nebst inneren und äusseren Gefahren, die als die üblichen Erwähnung finden, tritt an dieser Stelle erstmals das Thema des Pfarrermangels auf und dass man neue Kirchgemeinden errichten sollte.

3. Frage: Was geschieht zur Belebung und Stärkung des kirchlichen Gemeinschaftsbewusstseins? Die eingegangenen Meldungen sind so vielfältig und bunt wie die kirchliche Landschaft überhaupt.

4. Frage: Hat der Besuch der Gottesdienste und die Teilnahme am heiligen Abendmahl zu- oder abgenommen? Die Antworten halten sich die Waage. Unbestritten und allseitig begehrt sind nach wie vor die Kasualien.

5. Frage: Werden zur Kinderlehre jüngere Jahrgänge beigezogen? Sind Unterweisung und Kinderlehre auch von Erwachsenen, besonders von Mitgliedern der Behörden besucht worden? Welches Lehrbuch gebrauchen Sie beim Konfirmandenunterricht? Befinden sich in Ihrer Kirchgemeinde freiwillige Sonntagschulen und unter welcher Leitung stehen sie? Die Antworten geben Einblick ins damalige Unterrichtswesen, das sich vom Unsrigen stark unterscheidet.

6. Frage: Was geschieht zur Hebung des Kirchengesangs? Eine wichtige Frage im Blick auf das neue Gesangbuch und die zahlreich neu erbauten Orgeln.

7. Frage: Ist Lust und Opferwilligkeit vorhanden zu kirchlichen Werken wie Instandstellung der Kirchengebäude, Friedhöfe u.s.w? Am eigenen Haus, lässt sich erkennen, wird nicht gespart.

8. Frage: Zeigt sich in Ihrer Gemeinde Freudigkeit zur kirchlichen Liebestätigkeit in der äusseren und inneren Mission (Diakonie)? Der Abschnitt bietet einen Überblick über das damalige soziale Netz im Kanton Bern. Eher am Rande steht die Heidenmission.

9. Frage: Haben Sie in Spitälern, Gefangenschaften und Anstalten zu funktionieren und welche Erfahrungen machen Sie dabei? Wie dies noch heute der Fall ist, bestand auch damals zwischen den staatlichen Institutionen und der kirchlichen Seelsorge eine enge Zusammenarbeit.

1. Frage zur Sittlichkeit: Wie steht es mit dem sittlichen Leben nach seinen Schattenseiten? Hier können die Pfarrer so richtig ihr Herz ausschütten über alles, was ihnen Sorgen bereitet und sie als unmoralisch glauben benennen zu müssen.

2. Frage: Machen sich Bestrebungen, welche eine Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse bezwecken, in Ihrer Gemeinde ebenfalls bemerkbar und wie äussern sie sich? Die damalige Kirche setzte sich sehr intensiv auseinander mit der Arbeiterbewegung als gesellschaftliches Phänomen und seelsorgerliches Problem, gleichzeitig aber auch mit dem Sozialismus als atheistische Theorie.

3. Frage: Haben die Vergehen gegen die Sittlichkeit zu- oder abgenommen? Die einen sehen’s so, die andern anders.

4. Frage: Ist etwelche Einschränkung des Wirtshauslebens, des Alkoholismus, des Pauperismus sichtbar geworden und haben die diesbezüglichen Bestrebungen Früchte getragen? Die Antworten gehen weniger in die Richtung zu sagen, ob die Situation besser geworden sei oder sich verschlechtert habe; sie zeigen vielmehr, dass nach wie vor die Kirche sich im sozialen Bereich zu engagieren gewillt ist.

5. Frage: Wie steht es mit der Sonntagsfeier? Klagen über Nichtbeachtung der Sonntagsheiligung sind ein Dauerbrenner.

6. Frage: Welches sind Ihre Beobachtungen in betreff der Erziehung der Kinder, insbesondere auch der in Anstalten oder bei Privaten verpflegten Kindern? Nebst dem üblichen Lamento über mangelnde und schlechte Kindererziehung taucht hier das Thema der Verdingkinder auf.

Der ganze Bericht macht einen ausserordentlich ehrlichen, gar nicht beschönigenden, dafür umso engagierteren Eindruck. Er schliesst mit dem Gebet: Herr, mehre und den Glauben.

Im Anhang wiederum die Kirchenbehörden: Synode, Synodalrat und Prüfungskommission, sowie die kirchliche Statistik.

L'auteur de ce rapport, Henri Meyrat, était pasteur à Renan, délégué au synode et membre du conseil synodal.