Jugendliche Lebenswelten im Fokus

Eine Jugend – viele Lebenswelten

Die Leitsätze für die kirchliche Jugendarbeit der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn halten fest, dass "kirchliche Jugendarbeit die Lebenswelten junger Menschen kennt, auf diese aufbaut und Frei- und Experimentierräume schafft, die eigenständiges Erfahren und Lernen ermöglichen." Diese Forderung ist gleichermassen hilfreich und herausfordernd. Hilfreich darum, weil sie den Blick ganz auf die Zielgruppe kirchlicher Jugendarbeit lenkt und damit sicherstellt, dass die Jugendarbeit in den Kirchgemeinden bedürfnisorientiert gestaltet wird. Denn gerade, wenn sich Jugendarbeit animatorisch versteht und Jugendliche nicht nur als Konsumentinnen und Konsumenten, sondern als Akteure ihrer Arbeit sieht, ist es unverzichtbar, die Lebenswelt der Jugendlichen zu kennen. Diese Forderung ist aber eben auch herausfordernd, weil die Welt der Jugendlichen für Erwachsene immer ein Stück weit eine fremde Welt bleibt und in sich sehr divers ist. So etwas wie «die Jugend» gibt es nicht. Wie alle Teile der Gesellschaft bewegen sich auch Jugendlichen in unterschiedlichen Subkulturen, Gemeinschaften und Szenen, die sich zum Teil radikal unterscheiden.

Das Milieumodell

Dieses Phänomen versucht auch die Soziologie und insbesondere die Marktforschung angemessen zu beschreiben. Spätestens mit der Individualisierung, die unsere Gesellschaft seit Ende der 50er Jahre prägt (Vgl. Beck, Risikogesellschaft, 1986), sind die klassischen Schichten- oder Klassenmodelle keine angemessene Art mehr, um die komplexer werdenden gesellschaftlichen Strukturen zu beschreiben. Eindrücklich zeigt sich dies am Beispiel der sogenannten «soziodemografischen Zwillinge». Zwei Männer mit Jahrgang 1948, die beide in London leben und überdurchschnittlich wohlhabend sind, wären in einem Schichtenmodell der gleichen Gruppe zugehörig – im konkreten Fall wird man Prinz Charles und den Rockstar Ozzy Osbourne aber wohl kaum der gleichen gesellschaftlichen Gruppe zuordnen. Auch wenn sich ihre soziodemografischen Daten kaum unterscheiden, so pflegen sie doch einen fundamental verschiedenen Lebensstil. Ihre ästhetischen Präferenzen und ihre persönlichen Wertvorstellungen unterscheiden sich radikal. Die Lebensstilforschung entwickelt deshalb seit den 90er Jahren Modelle, um dieser Tatsache gerecht zu werden. Eines davon ist das Sinus-Milieu-Modell der Firma Sinus Sociovision aus Heidelberg. Siehe Link: www.sinus-institut.de.

Marktforschung für die Kirche?!

In Zusammenarbeit mit dem BDKJ (Bund der Deutschen Katholischen Jugend, www.bdkj.de) und MISEREOR (deutsches bischöfliches Hilfswerk, www.misereor.de) hat dieses Institut 2012 zum zweiten Mal eine Studie unter dem Titel «Wie ticken Jugendliche?» herausgebracht (Vgl. Wippermann/Calmbach, Wie ticken Jugendliche? Sinus Milieustudie U27, 2007 und Calmbach u.A., Wie ticken Jugendliche? 2012. Lebenswelten Jugendlicher im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, 2012). Darin werden die Lebenswelten von Jugendlichen detailliert beschrieben – insbesondere auch in ihrem Verhältnis zur Kirche. Und obwohl es sich um eine deutsche und katholische Studie handelt, lassen sich auch für unsere Situation in der Schweiz interessante Hinweise aus der Studie gewinnen. So zeigt die Studie, dass es der Kirche kaum mehr gelingt, an die Lebenswelten der Jugendlichen Anschluss zu finden. Nur das kleiner werdenden Milieu der traditionellen Jugendlichen, die über die Familie in den Kirchgemeinden verankert sind und die Gruppe der postmateriellen Jugendlichen, die durch Themen wie soziale Gerechtigkeit, Friede und Bewahrung der Schöpfung mit der Kirche in Berührung kommen. Weder in den sogenannten Leitmilieus der Modernen Performer (Leistungs- und Trendorientierte MacherInnen) und der Experimentalisten (junge Kreative und QuerdenkerInnen) noch in den Spass- und Konsumorientierten Milieus der Hedonisten und Konsummaterialisten spielt die Kirche eine wahrnehmbare Rolle. Auch zu den bürgerlichen Jugendlichen, die sich an der Frage «was ist normal?» ausrichten, findet die Kirche keinen Zugang. Die Studie zeigt eindrücklich, wie fremd die Kirche  vielen Jugendlichen ist. Ein befragter Jugendlicher drückt es so aus: «Ich denke eher, Kirche ist etwas für ältere Leute oder Erwachsene. Weil das sind nicht die Interessen von Jugendlichen oder so.» Ist das so? Oder können wir diesem Eindruck etwas entgegenhalten?

Milieus – eine hilfreiche Brille für kirchliche Jugendarbeit

Der Theologe Matthias Sellmann hat treffend festgestellt, dass nicht wir als Kirche auf die Jugendlichen zugreifen können, sondern dass wir höchstens versuchen können unsere Angebote so attraktiv zu gestalten, dass die Jugendlichen eventuell auf die Kirche zugreifen. Es geht also darum, neue Wege zu finden, auf die Jugendlichen zuzugehen. Eine fundierte Kenntnis der Lebenswelten (z.B. mit Hilfe der Milieustudie) ist hier sicher wertvoll. Die soziologischen Studien lenken den Blick darauf, wie wichtig eine klare Definition der konkreten Zielgruppe ist. Wir müssen uns von der Illusion verabschieden, Angebote für «die Jugendlichen» machen zu können… Im Gegenteil: je genauer die Zielgruppe für ein Angebot umrissen ist, umso ansprechender wird das Angebot für diese Gruppe sein – und umso genauer können die Bedürfnisse dieser Gruppe abgedeckt werden. Eine solche Zielgruppenorientierung betrifft einerseits Äusserlichkeiten wie die Gestaltung des Flyers, die Wahl der Räumlichkeiten, der Musik, etc. Sie spielt aber auch in der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung der Angebote eine Rolle, indem die Werte und Vorlieben der einzelnen Zielgruppen bewusst aufgenommen und angesprochen werden. Gerade auch in der Arbeit mit biblischen Texten und Themen kann ein solcher milieusensibler Blick hilfreich sein. In meiner Lizenziatsarbeit, die unter dem Titel «Wie tief man graben muss...» im Lit-Verlag erschienen ist, habe ich den Versuch unternommen, Bibelauslegung und kirchliche Jugendarbeit im Bezug auf die Zielgruppe der hedonistischen Jugendlichen zu denken (Vgl. Meier, «Wie tief man graben muss...». 2010). Die Teilnehmenden der Tagung "Wie tickt die Jugend von heute?" von refbejungso haben sich einen halben Tag lang mit den verschiedenen Milieus auseinandergesetzt (vgl. Collagen) und ihre eigene Jugendarbeitspraxis im Blick auf diese sozialen Gruppen reflektiert. Sie haben sich gefragt, welche praktischen Konsequenzen diese soziologischen Erkenntnisse für ihre Kirchgemeinden haben.

Milieusensible Jugendarbeit konkret

Die Tagung hat gezeigt, dass es kein einfaches Rezept gibt, wie milieusensible kirchliche Jugendarbeit «funktioniert». Es ist vielmehr so, dass die Milieu-Brille es uns ermöglicht, am je konkreten Ort passende Lösungen zu entwickeln.

Das Milieumodell fordert uns zu neuen Fragen heraus, die helfen, die eigene Praxis zu überdenken und so zu gestalten, dass jugendliche Lebenswelten darin vorkommen können. Solche Fragen können sein:

  • Für welche Milieus können die Angebote unsere Kirchgemeinde attraktiv sein?
  • Welchen Milieus gehören die Jugendlichen an, die unsere Angebote nutzen? Welche Milieus sind nicht vertreten?
  • Wie viele verschiedene Milieus versuchen wir durch unsere Angebote anzusprechen?
  • Sollten es mehr sein? Oder sollten wir uns konzentrieren?
  • Was zeichnet diese Angebote aus und wie werden sie beworben?
  • Welche Äusserlichkeiten halten wir für wichtig in der Jugendarbeit: Auftritt der Mitarbeitenden? Räume? Flyers? Website? Musik? Anderes?
  • Passen Stilistik/Ästhetik und Inhalt zum gleichen Milieu?
  • Wieviel Wert legen wir auf den Inhalt, wieviel auf die Form? Und wo investieren wir wieviel: Arbeitszeit? Geld? Andere Ressourcen?
  • ...

Wie diese Fragen beantwortet werden und wie die Prioritäten gesetzt werden, darüber gibt die Milieustudie keine Auskunft. Sie ist ein Instrument zum SEHEN. Sie rückt jugendliche Lebenswelten in den Blick, die in der Kirche wenig präsent sind und die wir deshalb leicht übersehen. Welche Konsequenzen wir aus diesem neuen Blick ziehen, wie wir also URTEILEN und HANDELN – das ist die bleibende Herausforderung für die Kirchgemeinden und ihre Praktikerinnen und Praktiker in der Jugendarbeit.

Andrea Meier

Collagen von den Fotosafaris an der Tagung "Wie tickt die Jugend von heute?"
Collagen von den Fotosafaris an der Tagung "Wie tickt die Jugend von heute?"
Collagen von den Fotosafaris an der Tagung "Wie tickt die Jugend von heute?"