Milieustudie am Beispiel von Thun-Strättligen
Die Kirche scheint für die Ewigkeit gebaut, deshalb lässt sie sich für Veränderungen immer auch viel Zeit. Die Kirche trägt, indem sie sich erinnert, Sorge zu dem, was war und ist. Und sie stellt selbst wieder Tradition her, die in der Gegenwart beginnt und Zeiten überdauert. Das sind langsame Prozesse, die häufig mehr von Zurückhaltung als von Begeisterung geprägt sind. Das Bewährte übersteht viele "Moden" und schafft es so immer wieder, Neues entweder in geeigneter Form zu integrieren oder sanft vergessen zu lassen. Das macht die Kirche auch sympathisch; aber genügt das, um unsere Volkskirche zukunftsfähig zu machen? Die Kirchgemeinde Thun-Strättligen setzt sich seit vielen Jahren dafür ein, die Weichen für die Zukunft zu stellen, aktiv Veränderungen zu initiieren und nicht erst zu reagieren, wenn es schon zu spät ist. Wie können wir unsere Angebote besser auf die Bedürfnisse der Menschen ausrichten? Wie können wir verantwortungsvoll und zukunftsgerichtet mit unseren personellen, materiellen und finanziellen Gegebenheiten umgehen? Dafür braucht es bei allen Beteiligten die Einsicht, dass die Zeiten ändern und die Ressourcen knapper werden. Und es braucht viel Geduld, oder wie es in einem afrikanischen Sprichwort heisst: "Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht."
2005: Visionen entwickeln
Am Anfang war die Vision 4: "In Menschen investieren"[1]. Es ist eine von insgesamt 5 Visionen, welche in der Kirchgemeinde Thun-Strättligen zwischen 2004 und 2005 entwickelt wurden, um vorausschauend auf kommende Veränderungen vorbereitet zu sein, anstatt immer nur unter Druck zu reagieren. Bei der Umsetzung der Vision 4 stellten sich zunächst Fragen wie: Wer ist Kirche? Wer sind unsere Mitglieder? Was soll wo stattfinden? Welche Gebäude brauchen wir? Was kann übergreifend angeboten werden? Um erste Hinweise auf mögliche Antworten zu erhalten und dabei von Erfahrungen anderer Kirchen und Kirchgemeinden zu profitieren, besuchte die Kirchgemeinde 2008 die Katholische Kirche der Stadt Luzern. Hier lieferte der katholische Theologe Georg Vogel mit der Vorstellung der damals noch relativ unbekannten Milieustudie und des "Modells kirchlicher Orte" (Uta Pohl-Patalong, Theologin an der Universität Kiel) wichtige Grundlagen für die nächsten Schritte.
Mit "Kirchlichen Orten" sind alle Gebäude gemeint, in denen bisher kirchliche Arbeit geleistet wurde, teils mit Aufgabengebieten, teils mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Bei der Orientierung an kirchlichen Orten geht es darum, Unterschiedliches an unterschiedlichen Orten anzubieten. Dabei gibt es an jedem kirchlichen Ort sowohl ein vereinsähnliches kirchliches Leben, das getragen wird von Ehrenamtlichen (Priestertum aller Gläubigen), wie auch inhaltlich qualifizierte Arbeitsbereiche (funktional bestimmte Zielgruppenarbeit), welche in der Verantwortung der Profis liegen.
Unter Milieus werden Lebensweisen und Lebensauffassungen verstanden, die sich ähneln und denen verwandte Grundorientierungen, Werteprioritäten, Lebensstile und eine ähnliche soziale Lage zugrunde liegen. Für die katholische Kirche der Stadt Luzern bedeutete dies, dass sich die Kirche in der heutigen Zeit stärker profilieren muss. Es gilt, der Vielfalt der Lebensstile und Lebenshaltungen gerecht zu werden und die Menschen der verschiedenen Milieus gezielter anzusprechen. Neben dem unverzichtbaren Grundangebot wurden sogenannte Profilangebote geschaffen, die sich nach kirchlichem Ort und Milieus unterscheiden. Das "Modell kirchlicher Orte" schaffte hier den kirchlichen Boden für die Umsetzung der Milieuorientierung.
Mit dem Besuch der katholischen Kirche Luzern erhielt die Kirchgemeinde Thun-Strättligen wertvolle Impulse für die weitere Arbeit an der Vision 4. Vor allem die Unterscheidung in Grund-, Profil- und Gesamtstädtische Angebote sowie die Einführung in die Sinus-Milieus hatten die Kirchgemeinde davon überzeugt, den begonnenen Prozess nun auf Ebene Gesamtkirchgemeinde weiterzuführen.
2008: Sinus-Milieustudie
Auf Anregung der Kirchgemeinde Thun-Strättligen wurde deshalb für die Gesamtkirchgemeinde Thun 2008 eine Milieustudie in Auftrag gegeben, deren Resultate an der Info-Veranstaltung vom 12. März 2009 den 5 Einzelkirchgemeinden der Gesamtkirchgemeinde vorgestellt wurden. Diese erste Präsentation der Studie warf in Thun hohe Wellen – nicht nur in Kirchenkreisen. Die Fragen zur Studie folgten dicht an dicht, die Medien meldeten sich und Exponenten der Thuner Kirche wurden zu verschiedenen Referaten eingeladen. Doch dann folgte wieder Funkstille und auch in den Kirchgemeinden war die Studie längere Zeit kein grosses Thema mehr. Das lag vor allem daran, dass eine Übersetzung in den kirchlichen Kontext gefehlt hat. Die Milieustudie hat ihren Ursprung unverkennbar im Marketingbereich. Mit der Zuordnung der möglichen Kunden und Kundinnen in 10 unterschiedlichen Milieus wird es nun möglich, Produkte gezielt zu platzieren und das gewünschte Publikum gezielt anzusprechen – was Kosten spart und den Erfolg erhöht. Die erste Präsentation der Studie, welche durch das beauftragte Büro vorgenommen wurde, blieb noch ganz in dieser Marketing-Logik verhaftet.
2011: Milieus als Sehhilfe
Nachdem die Milieustudie zwei Jahre lang in den Schubladen der Kirchgemeinden liegen blieb, nahm die Kirchgemeinde Thun-Strättligen den Faden wieder auf und lud am 1. April 2011 den Religionspädagogen Damian Kaeser-Casutt nach Thun ein, der in der St. Galler Kirche viel Erfahrung mit der Umsetzung der Milieustudie im kirchlichen Kontext sammeln konnte. Seine Aufgabe war es, die Milieu-Daten von ihrem Marketingkleid zu befreien und als Sehhilfe für die Gemeindeentwicklung nutzbar zu machen.
"Für Alle statt für Wenige", dieser politische Wahlspruch einer grossen Schweizer Partei könnte so auch von Kirchenleuten formuliert worden sein. Eine Volkskirche sollte immer alle Menschen im Blick haben. Die Realität sieht aber heute anders aus. Wir sind eine Kirche für Wenige geworden. Bei der Milieuorientierung wird anerkannt, dass die Volkskirche nicht (mehr) alle Menschen gleichermassen erreicht und dass es auch kein kirchliches Format gibt, welches für alle passt. Diese Einschätzung führt bei vielen Kirchenleuten zu roten Köpfen und nicht selten zu bitterbösen Kommentaren. Aber als sogenannte Volkskirche erreichen wir mit unseren Angeboten bestensfalls noch 2–3 Milieus, die dazu überwiegend im traditionellen Bereich anzusiedeln sind. Zudem haben Menschen unterschiedlicher Milieus nur ein begrenztes gegenseitiges Verständnis füreinander. Die "Duftnote" eines vorherrschenden Milieus und die damit einhergehende Milieu-Ästhetik schliesst z.T. andere Milieus aus, d.h. eine Milieumischung an einem Ort ist fast nicht möglich – schier unüberwindlich ist die sogenannte "Eckelgrenze" zwischen den Milieus. Für die Kirche bedeutet das, dass sie sich im Sinne einer "Milieu-Sklerose" (Michael Ebertz, Religionssoziologe an der Katholischen Hochschule Freiburg) auf einige wenige, eher traditionelle Milieus verengt hat und dass damit vor allem der Kontakt zu den jungen Milieus verloren gegangen ist. Die "besetzenden" Milieus bestimmen Aussehen und Nutzung der Räume, prägen die Werbung und bremsen Veränderungen. Nicht selten unterscheiden sich zudem die Milieuzugehörigkeit der Mitarbeitenden, der Kirchenleitung und des Kirchenvolkes voneinander, was bei entsprechenden Aufstellungen an einem Team-Event immer auch zu erstaunten Gesichtern und einer gewissen Ratlosigkeit führt. Um auch weitere Milieus ansprechen zu können, müssen wir diese Milieus verstehen und zielgruppengerechte Kommunikations- und Angebotsformen entwickeln können. Das hat nichts mit billigem "Eventismus" zu tun. Ziel ist es letztlich, sich in der Gemeindeentwicklung für und mit den Menschen gleichzeitig und gleichwertig auf die verschiedenen Lebensräume und gesellschaftlichen Milieus, in denen sich die Menschen bewegen, einzulassen und die notwendigen Schritte zu unternehmen. Die Sinus-Milieus dienen hier als gute Sehhilfe, um die verschiedenen Menschen mit ihren Lebensstilen und Lebenshaltungen in den Blick zu bekommen. Die Kirche darf sich trotz schwindender Ressourcen nicht auf die schrumpfenden Milieus zurückziehen und muss neue Orte der Kommunikation der frohen Botschaft schaffen. Dafür müssen auch Ressourcen für neue Wege freigeschaufelt werden.
2012: Fusionsgedanken
Die Milieustudie kann aufzeigen, mit welchem "Publikum" die Kirchgemeinde vorwiegend unterwegs ist und welche Veränderungen und Anpassungen möglich und realistisch sind. Der Milieublick ist zudem wertvoll, um die kirchlichen Orte mit Inhalten zu füllen. In der Kirchgemeinde Thun-Strättligen wurde deshalb an mehreren Retraiten versucht, für das Gemeindegebiet eine Profilierung für die Angebote und Gebäude der Kirchgemeinde zu erarbeiten: Eine Familienkirche in Allmendingen, eine Jugend- und Migrationskirche im KGH Markus, eine Schöpfungskirche im Gwatt, eine traditionelle Kirche in der Johanneskirche und schliesslich eine Kasualkirche (Trauungen und Taufen) in Scherzligen. Nebst den aus der Milieustudie gewonnenen Erkenntnissen wurde bei diesen Überlegungen ebenfalls die Arbeit berücksichtigt, die bisher an einem Ort geleistet wurde. Doch auch dieser Prozess kam wieder ins Stocken. Bald einmal zeigte sich, dass diese enge, auf eine Kirchgemeinde begrenzte Sichtweise der Profilierung nicht mehr ausreicht. Zudem gibt es zahlreiche Angebote, welche die Grenzen der Kirchgemeinde schon seit längerem sprengen: Angebote der Spiritualität ziehen Menschen weit über das Gebiet von Thun-Strättligen hinaus an. Die Soziale Arbeit der Kirche orientiert sich an der Not der Menschen, welche nicht an den Grenzen der Kirchgemeinde Halt macht. Hier hat sich eine kirchgemeindeübergreifende Zusammenarbeit etabliert, welche den betroffenen Menschen zugutekommt. Wird also bei Veränderungen das Einzugsgebiet der Gesamtkirchgemeinde mitgedacht, eröffnen sich plötzlich neue Möglichkeiten, lassen sich personelle, räumliche und finanzielle Ressourcen besser nutzen und zugunsten einer Kirche für die Vielen statt für die Wenigen einsetzen. Nun tut sich also wieder eine neue Baustelle auf und es werden erste Überlegungen in Richtung Fusion der Kirchgemeinden in Thun angestellt. Aber auch hier gilt: Veränderungen brauchen Zeit.
2020: Fazit und Ausblick
Die Sinus-Milieus waren für die Kirchgemeinde Thun-Strättligen nicht der Anfang neuer Diskussionen, sondern ein weiteres wertvolles Puzzleteilchen in einem langen Prozess, der mit der Formulierung von Visionen für die Zukunft gestartet hat. Die Möglichkeiten der Milieusicht konnten während all der Jahre allerdings nicht voll ausgeschöpft werden. Zu gross blieb die Skepsis gegenüber einem Instrument, das von Kunden und Produkten und Markt statt von Menschen und der Überbringung der frohen Botschaft spricht. Zu gross ist zudem der Widerstand, Vertrautes und Bewährtes loszulassen. Es fehlt – vor allem auf Profi-Seite – die Begeisterung, die es braucht, um mutige Entscheide zu treffen und Veränderungen einzuleiten, auch wenn in all den Jahren die Milieusensibilität sicher gewachsen ist. So blieb es bei kleinen kosmetischen Anpassungen. Am Anspruch der Volkskirche, eine Kirche für alle zu sein, hat dies allerdings nicht viel geändert. Mit der angedachten Fusion der Einzelkirchgemeinden steht nun die nächste grosse Herausforderung vor der Türe. Schliesslich wird es darum gehen, dass die Menschen die Kirche weiterhin als lebensdienlich erfahren, als eine Kirche, die mit ihrem Leben zu tun hat. Dazu müssen wir das von der Parochie geprägte "Gärtlidenken" überwinden und neue Orte der Gemeinschaft und des Zusammenkommens ermöglichen. Die Kirche der Zukunft hat eine funktionierende und positive Öffentlichkeitsarbeit, die für Offenheit und Transparenz der Kirche besorgt ist. Sie sucht nach zeitgemässen Formen des Dialogs. Sie verabschiedet sich von einem sich gegenseitig konkurrenzierenden Aktivismus und setzt Akzente. Sie ist eine Kirche mit Profil(en) und sucht die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und Institutionen. Und besinnt sich dabei auf ihre Stärken und Themen: Nähe, Offenheit, Friedensarbeit, Bewahrung der Schöpfung, persönliche Gespräche, Zeit und offenes Ohr für die Menschen, Raum für Feierlichkeit und Rhythmus, Freiwilligkeit und Kompetenz, Wegweiser in einer schwierigen Zeit – und Beheimatung. Eine Kirche für Viele statt für Wenige…
Udo Allgaier
[1] Vision 4: Investieren in Menschen
Geld in Menschen und Anstellungen investieren: Gebäude funktional entwickeln, Zentren schaffen mit spezialisierten Angeboten für die ganze Stadt, dafür im Quartier in einem kirchlichen Gebäude "Gemeinschaft" anbieten mit Unterstützung der professionellen Gemeinwesenarbeit.