Anlaufstelle für Städter in Zeiten der Unsicherheit

Beratungen und Begleitungen von Einzelpersonen und Familien machen den grössten Teil der täglichen Arbeit von Olivia Sanchez aus. Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt der Sozialdiakonischen Mitarbeiterin liegt in der Altersarbeit, wo sie Angebote schafft, die Gemeinschaft erleben lassen.

"Ältere Menschen haben ein erhöhtes Risiko zu vereinsamen, sie können zeitweise die eigenen vier Wände nicht verlassen und jemanden besuchen", berichtet die sozialdiakonische Mitarbeiterin (SDM), die seit gut zwei Jahren im Breitenrainquartier arbeitet. Olivia Sanchez wuchs im Quartier auf und absolvierte das Lehrerinnenseminar. Ihre Abschlussarbeit schrieb sie über die lateinamerikanische Befreiungstheologie: "Ich erkannte, dass die evangelische Botschaft Grundlage für soziale Gerechtigkeit ist, die meiner Lebenshaltung entspricht. Nach mehrjähriger Berufserfahrung als Lehrerin entschied ich mich dazu, Sozialarbeit zu studieren, um mit meiner Arbeit für soziale Gerechtigkeit einzustehen."

Die urban globale Welt...

Die Sozialdiakonie der Johannes-Kirchgemeinde ist gut vernetzt und arbeitet institutionell mit der Quartierarbeit, mit Schulen und Krankenkassen, mit Behörden (bspw. i.S. Ergänzungsleistungen und der Invalidenversicherung), mit Vergabe-Stiftungen, aber auch Ärzten zusammen, um die Klienten gut zu begleiten. Auch der Sozialdienst der Stadt Bern gehört dazu: "Anders als der Sozialdienst haben wir keinen gesetzlichen Auftrag. Kirchgemeinden können daher anders arbeiten, das schafft Vertrauen", die diplomierte Sozialarbeiterin verbringt viel Zeit damit, Gesuche für finanzielle Unterstützung zu schreiben. Geldsorgen seien ein konstantes Thema und die Menschen seien verunsichert, was die Zukunft bringen werde. In Notlagen kann Sanchez auch Migros-Gutscheine abgeben "um Essen zu kaufen". Grundsätzlich sei die Kirchgemeinde für Menschen aus dem Quartier da, aber jeder der zu ihnen komme, werde angehört. Was vermieden wird, ist Bettel-Tourismus: "Einige Personen verweisen wir an Kirchgemeinden ihrer Wohnorte. Auch Durchreisenden wird geholfen - egal woher sie kommen und welcher Religion sie angehören." Abgegeben werden in solchen Fällen Essensgutscheine oder ein Batzen für das Busbillet und eine Wegbeschreibung zur Berner Passantenhilfe." Die SDM beobachtet besorgt die Verlagerung der Zuständigkeit von einer staatlichen Behörde zur nächsten; wie von der Invalidenversicherung zu den Sozialdiensten, deren Auflagen zunehmend restriktiver würden. "Wenn diese Entwicklung so weitergeht, werden immer mehr Leute bei uns anklopfen", prognostiziert Olivia Sanchez.

Im Bereich Sozialdiakonie der Kirchgemeinde Johannes arbeiten zwei diplomierte Sozialarbeiterinnen und ein diplomierter Sozialarbeiter. Sie teilen die Klientenarbeit nach Quartierstrassen auf, nicht nach Themen. "Meine Aufgaben sind sehr vielfältig, ich komme genauso mit Familien, jungen Menschen und Migrantinnen und Migranten in Kontakt wie meine Kollegen", erklärt Sanchez begeistert.

...und das Älterwerden

Schwerpunkt-Themen teilt sich das Dreierteam zusammen mit den Pfarrerinnen und dem Pfarrer im Bereich Gemeindearbeit zu. Olivia Sanchez ist für die Seniorenarbeit zuständig. Die Seniorinnen und Senioren sind ihr wichtig, das Interesse an deren Lebensgeschichten und Bedürfnissen ist aufrichtig. Seit zwei Jahren ist Sanchez in der Johannes-Kirchgemeinde tätig. Oft würden Veranstaltungen ökumenisch und quartierübergreifend durchgeführt, erzählt die SDM. So das Seniorentheater, welches jährlich im Frühjahr in den Kirchgemeinden der Stadt und in Berner Senioren Wohnheimen auf "Tournee" geht. "Ich habe viel Freiraum für Gestaltung in der Gemeindewesenarbeit, kann erspüren, welche Angebote ankommen, was gebraucht wird. Wir bieten Veranstaltungen an, an denen Gemeinschaft erlebt werden kann", berichtet Olivia Sanchez. Die Seniorenferien wurden wegen zu kleiner Nachfrage von der Veranstaltungsreihe "Sommerplausch Nachmittage" abgelöst. Nach einem gemeinsamen Mittagessen werden Geschichten erzählt, es wird gesungen, getanzt, gebastelt und Lotto gespielt. Die älteste Teilnehmerin sei 99 –jährig gewesen.

Sozialdiakonie im Wandel

Sie liebe ihre Arbeit als SDM, die vielfältigen Aufgaben und den Freiraum, in welchem sie die Arbeit erledige. Dieser Raum setze viel Eigenverantwortung voraus. Rückhalt und Reflexion geben Olivia Sanchez die Arbeitskolleginnen und –kollegen: "Wir haben eine ähnliche Haltung, ich fühle mich dazu gehörig und wir tauschen uns oft untereinander aus." Rückschau über das vergangene Jahrzehnt kann die junge SDM nicht halten, sie schaut jedoch besorgt voraus. Seit dem 1. Juli 2012 gilt die "Verordnung über die Ordination, die Beauftragung und die Einsetzung in das Amt”. Olivia Sanchez fragt sich, was die Beauftragung für konkrete Folgen haben wird: "Vieles hinsichtlich der Umsetzung der Verordnung ist noch offen." Zum Beispiel arbeitsrechtliche Fragen: "Bereits heute helfe ich bei der Gestaltung und Durchführung der Kirchensonntage und übernehme mal ein Ämtli in einem Gottesdienst, wenn meine Mithilfe explizit gefragt ist. Dass wir nun gottesdienstliche Handlungen übernehmen dürfen, wenn der Synodalrat uns dazu ermächtigt, ist inhaltlich schön, aber was bedeutet dies für unsere Arbeitszeitregelung? Und wie viel Weiterbildungszeit muss ich mittelfristig planen, damit ich beauftragt werden kann? Wird bereits geleistete theologische Arbeit, wie beispielsweise die konzeptuelle Vorbereitung eines Konfirmandenlagers angerechnet? Olivia Sanchez anerkennt das Plus theologischer Kompetenzen für die Ausführung des sozialdiakonischen Dienstes, gibt aber zu bedenken: "In meinem Berufsbild berufe ich mich inhaltlich auch auf weltliche Gesetzte und Verordnungen, die nicht erwähnt wurden. Meiner Meinung nach müsste die weltliche Realität in der Verordnung abgebildet werden. Das eine schliesst das andere ja nicht aus. Wir befinden uns in einer Zeit grosser Umwälzungen." In der Stadt Bern gleich doppelt. Die im Sommer 2012 durchgeführte Umfrage der Arbeitsgruppe Strukturdialog der Gesamtkirchgemeinde resultierte darin, dass die Mehrheit der Berner Kirchgemeinden eine Fusion begrüssen.

Barbara Richiger

Olivia Sanchez, Sozialdiakonin in der Kirchgemeinde Johannes Bern, ist gut vernetzt im städtischen Umfeld.
Ein Bild, das für sich spricht.
Die Warteecke im Kirchgemeindehaus Johannes.

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