Keine Betty Bossi Rezepte für gelingende Beziehungen

Familienstrukturen, Eltern- und Kindsein, die Wirtschaftslage, Erwartungen und Ressourcen – alles ist dem Gesetz der Veränderung unterworfen. Je schneller der Wandel geschieht, desto stärker verlangt der Mensch nach Leitplanken; auch fürs Familienleben. Etwas bleibt unveränderlich, quasi eine Ausnahme zur Wandelregel: Es gab und gibt keine Rezepte für gelingende Beziehungen.

Am 6. September 2012 hielten die Beraterinnen Ida Stadler, Doris Hodel und die Berater David Kuratle und Bernard Schrittwieser Rückschau auf die Entwicklung der kirchlichen Beratungsstellen EPF - Ehe, Partnerschaft, Familie.

 

Beraterinnen und Berater

  • Ida Stadler, 51 Jahre, EPF-Beratungsstelle Biel-Seeland-Berner Jura
  • Doris Hodel, 57 Jahre, EPF-Beratungsstelle Thun-Frutigen-Niedersimmental
  • David Kuratle, 48 Jahre, EPF-Beratungsstelle Region Bern
  • Bernhard Schrittwieser, 54 Jahre, EPF-Beratungsstelle Langenthal-Oberaargau und Biel-Seeland-Berner Jura

Kirchliche Beratungsstellen für Ehe Partnerschaft Familie (EPF)

 

haben eine lange Tradition
btr. Mitte der 1950-er Jahre öffneten die Beratungsstellen in Burgdorf (1953), Bern/Langenthal (1954) und Thun (1956) ihre Türen, gefolgt von Biel (1961). Noch weiter reichen die Anfänge der Beratung in Interlaken. Während des 2. Weltkriegs klopften Soldaten an die Türe des Pfarrers und baten ihn um Rat in Familienfragen. Heute arbeiten 19 Beraterinnen und Berater EPF an 9 Standorten im deutschsprachigen bernischen Kirchengebiet. Siehe Link: www.berner-eheberatung.ch. Ihr beratendes und therapeutisches Angebot wird durch eine Rechtsberatung im Bereich Sozial-Diakonie ergänzt.

werden durch den Kanton und die Synode anerkannt
Seit 1999 beteiligt sich der Kanton Bern im Rahmen einer Leistungsvereinbarung am Nettoaufwand der 9 regionalen Beratungsstellen EPF. Dieser wird seither zu dreiviertel durch die kirchlichen Trägerschaften, 3% durch den Synodalverband und 22% durch den Kanton Bern finanziert.

Seit 2004 verpflichtet die Kirchenordnung die Kirchgemeinden dazu, die kirchlichen Beratungsstellen in ihrer Region zu fördern und zu unterstützen (Artikel 80a).

zeichnen sich zwischen 2001 und 2010 durch Konstanz aus
Konstant ist nicht nur die Zahl der Beratungsstellen (9) und jene der Beraterinnen/Berater (18-20) geblieben. Auch die stundenmässige Beratungsleistung bewegte sich während dieser Jahre stets zwischen 8700 und 8900 Beratungsstunden.

 

 

Wie hat sich die Klientel in den letzten zehn Jahren verändert?

Doris Hodel: Für mich ist die zentralste Veränderung, dass heute gleich viele Männer wie Frauen eine Erstkonsultation vereinbaren. Vor zehn Jahren machten die Frauen den ersten Schritt. Für Väter steht heute auch mehr auf dem Spiel als früher. Die Väter sind engagiert und wollen weiterhin am Alltag der Kinder teilhaben – auch im Fall einer Trennung.

David Kuratle: Mir fällt auf, dass vermehrt junge unverheiratete Paare (ab 20 Jahren) unsere Beratungsstelle in Bern aufsuchen. Ich finde es sehr spannend, mit solchen Paaren zu arbeiten. Sie sind noch nicht festgefahren, sind sehr offen.

Kann es sein, dass diese Generation die Eltern in der Therapie erlebten und nun denken: Lieber früh als spät Hilfe holen?

David Kuratle: Auch, aber mich dünkt, junge Menschen holen sich selbstverständlicher Hilfe, wenn sie an Grenzen stossen. Sie rufen eine Fachperson, wenn der Computer nicht läuft, und suchen uns auf, wenn es in der Beziehung klemmt.

Vielleicht durfte man früher auch keine Krisen haben? Hilfesuchen war ein Tabu.

Doris Hodel: Ja, ich denke die Scham, hat sich verändert. Man schämt sich weniger, in eine Eheberatung zu gehen.

Bernhard Schrittwieser: Die neuen Kommunikationsmittel sind auch hilfreich, via E-Mail eine Anfrage zu formulieren, fällt einfacher. Gleichzeitig sind die Neuen Medien auch ein neues Phänomen in Paar-Beziehungen. Sehr häufig sind virtuelle Drittbeziehungen – die per SMS, E-Mail, Chat etc. geführt werden - bei Paaren präsent. Mann und Frau können aus einer Beziehung aussteigen, ohne unbedingt physisch untreu zu werden. Dies führt zu einer starken Dynamik: Kontrolle, Misstrauen und Vertrauensverlust. Ein sehr komplexes Gebiet. Zudem finde ich, dass die Generation der heute 40-jährigen noch keinen sicheren Umgang mit den Neuen Medien gefunden hat.

Birgt Web 2.0, bergen Social Media nicht auch Positives? Ich erinnere an die Entwicklung der Internet-/SMS-Seelsorge zum Vergleich.

Bernhard Schrittwieser: Das Beratungsgespräch kann nicht ersetzt werden, denn nonverbal werden die meisten Botschaften gesendet. Kein Instrument kann dies je ersetzen.

David Kuratle: Trotzdem kommen wir nicht darum, uns mit den Neuen Medien zu beschäftigen und auch online Gefässe zu schaffen. Es ist nicht ein "entweder oder" sondern eine Erweiterung unserer Arbeit. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es Menschen gibt, welche die klassischen Wege nicht nutzen wollen oder können. Wir sollten uns der Entwicklung nicht völlig verschliessen.

Was macht den Paaren, den Familien am meisten zu schaffen? Gab es eine Themenverschiebung seit dem Millennium?

Doris Hodel: Ich denke der Druck, der auf den Familien lastet: keine Zeit für nichts mehr. Nicht genug für die Kinder, geschweige für die Paarbeziehung. Viele klagen die einzige Gemeinsamkeit sei die Elternschaft. Das Gefühl der Überforderung ist weitverbreitet.

Bernhard Schrittwieser: Wir müssen ja alle cool und à jour sein! Dieser Anspruch drückt überall durch. Angefangen vom Kindergarten, wo Kinder wetteifern, wer bereits lesen und rechnen kann, bis ins Alter, wo Rentnerinnen und Rentner rüstig und geistig rege zu sein haben. Die Überforderung stelle ich generationenübergreifend fest. Und auch von mir wird erwartet, alles innerhalb drei Sitzungen paletti zu machen. Manche deklarieren, sie hätten einfach gerne ein Rezept für eine gelingende Paarbeziehung. Betty Bossi-Rezepte gibt es aber nicht.

Ida Stadler: Bei uns in Biel sind auch zunehmend Menschen von langer Erwerbslosigkeit und Berufs-Umschulungen, betroffen. Es herrscht ein grosser Druck in der Arbeitswelt. Viele brechen zusammen, ich habe vermehrt Burn-out Fälle in der Beratung. Diese Lebenssituationen sind eine grosse Belastung – emotional und finanziell – für die Betroffenen, die Partnerinnen/Partner und deren Kinder. Neu kommen auch mehr Jugendliche oder junge Erwachsene an der Schwelle zum Berufseinstieg in Beratung. Viele kommen mit der strengen Ausbildung nicht klar. Vielleicht auch ein Ausdruck dafür, dass die Erziehung sich geändert hat. Die heutigen Eltern nehmen oft den Kindern viel ab, sie geben ihnen somit weniger Gelegenheit, sich an Aufgaben zu stärken. Das ist eine neue Entwicklung.

Doris Hodel: Ich würd sagen, dass Kinder einer psychologischen Mehrbelastung ausgesetzt sind.

Ida Stadler: Ich denke, es ist sehr individuell, vielfältig und komplex, warum jemand zusammenbricht. Was ich schilderte, ist nur eine mögliche Komponente, die mir in der Beratung auffällt.

Doris Hodel: Und der gesellschaftliche Aspekt muss berücksichtigt werden. Wenn der Vater ein Burn-out hat, wirkt sich das auf das Kleinsystem aus. Die Familie wird erschüttert. Die Verunsicherung ist gross, wenn der gestandene Berufsmann und Vater plötzlich nicht mehr arbeiten kann. Die Familie muss alles alleine auffangen. Darunter leiden auch die Jugendlichen.

Ida Stadler: Ebenfalls neu ist, dass Paare uns nach vollzogener Trennung erstmals aufsuchen. Sie wollen gute Eltern bleiben und merken, dass dies ihnen nicht so gelingt wie erhofft.

Beispielsweise klappen Übergänge zwischen den zwei Elternhäusern nicht, Abstimmungen müssen besser gestaltet werden. Solche Fälle nahmen deutlich zu.

Suchen auch Patchwork Familien Beratungen auf? Und wenn ja, in welchem Setting?

Doris Hodel: Zumeist in der neuen Konstellation, das neue Paar sucht Unterstützung. Es ist zuweilen erschütternd zu hören, wie sich alten Geschichten fortsetzen. Solche neue Beziehungen können aber auch eine Chance sein, zu erkennen, dass wir alle unsere Schattenseiten haben. Darüber zu reden ist möglich und nötig. In diesem Zusammenhang ist die mangelnde Dialogfähigkeit bei Paaren ein Dauerbrenner. Vielen fällt es schwer zu respektieren, dass der Partner/die Partnerin einen eigenen Standpunkt hat. Diese Paare lernen zu klären, wo sie Kompromisse eingehen können und wo sich einer von beiden durchsetzt.

David Kuratle sie haben sich intensiv mit Männerfragen auseinandergesetzt. Brauchen Männer eine andere Beratung als Frauen?

David Kuratle: Wenn sich in einer Beratung zeigt, dass es um Genderfragen geht, ist es mir wichtig zu klären, wie das jeweilige Selbstverständnis entstand. Also zu klären: Wie wurde der Junge zum Mann und wie versteht sich der Mann als Mann? Und wie wurde das Mädchen zur Frau, wie versteht sie sich heute als Frau? Für mich ist das ein Teil der Arbeit, der zuerst geschehen muss, bevor man ins Gespräch kommt. Diese Klärung löst vielfach Verständnis für den anderen aus und führt den Dialog auf eine neue Ebene. Ein Beispiel: Nach der Biografiearbeit hat der Mann und Vater nun die Möglichkeit ein eigenes adäquates Bild von „wie will ich Vater sein“ zu entwickeln. Er ist nun für die Frau nicht mehr "nur der Verstockte", der keinen Zugang zur pubertierenden Tochter hat.

Im Zusammenhang mit finanziellen Sorgen: Sind die deutlich günstigeren Beratungen der EPF ein Marktvorteil? Oder anders gesagt, kommen auch schlechter Verdienende zu Ihnen?

Doris Hodel: Das würde ich so nicht sagen. Zu uns kommen auch gut verdienende Paare. Aber es ist wichtig, dass es ein kostengünstiges Angebot gibt, für all diejenigen, die ein kleineres Einkommen haben!

Ida Stadler: Im Raum Biel gibt es keine vergleichbare Institution, die Beratungen zu solchen Bedingungen anbietet. Viele könnten sich eine Beratung in einer psychologischen Praxis nicht leisten. Dass die Kirche EPF-Beratungsstellen anbietet, wird sehr geschätzt. Das stösst auf grosse Wertschätzung in der Öffentlichkeit.

Ist das Prädikat "kirchlich" insgesamt eher ein Nachteil oder ein Vorteil?

David Kuratle: In letzter Zeit suchen vermehrt freikirchliche Leute unsere Stelle in Bern auf. Die EPF sind in einen kirchlichen Kontext eingebettet, befinden sich aber für diese Klientengruppe ausserhalb des eigenen Rahmens der eigenen Gemeinde. Vielleicht wendet sich diese Gruppe Klienten auch aus einer Verletztheit heraus an uns: ihr Glaube könnte bei einer säkularen Stelle nicht respektiert werden oder gar für die schwierige Situation verantwortlich gemacht werden. Bei uns hingegen gehen sie davon aus, dass dies nicht geschieht. Selbstverständlich unterscheidet sich die Art der Begleitung nicht.

Ida Stadler: Ich denke, zu 90% werden wir wegen unserer fachlichen Kompetenzen angesprochen. Kirchliche religiöse Aspekte sind selten ausschlaggebend.

Bernard Schrittwieser: Dem stimme ich zu. Die meisten kennen die Trägerschaft zu Beginn nicht, dieser Faktor scheint sekundär zu sein. Ich möchte auch noch ergänzen, dass im Jahre 2012 in Langenthal viele sehr gut verdienende Leute die Beratung genutzt haben. Kann sein, weil in der Region Beratungsstellen dünn gesät sind oder weil, wie Ida sagt, die Fachlichkeit bekannt und geschätzt wird.

Doris Hodel: Etliche Paare hören auch via Pfarrpersonen oder anderen Mitarbeitenden der Kirchgemeinde von uns. Das vermittelt auch eine gewisse Sicherheit, eine Art Referenz: Das sind die Beratungsstellen der reformierten Kirchen.

Sie, David Kuratle, sind im Pfarramt und arbeiten bei der EPF als Berater. Wie gehen Sie mit dem Doppelmandat um?

David Kuratle: Wie Doris sagt, kommt es natürlich in meiner Pfarrtätigkeit vor, dass sich Frauen und/oder Männer an mich wenden. In der Regel empfehle ich eine Kollegin, einen Kollegen der EPF für eine Beratung. In einem seelsorgerlichen Gespräch können aber auch Familienfragen thematisiert werden. Ich unterscheide meine Tätigkeiten als Pfarrer und psychologischer Berater. Es sind zwei Hüte und zwei Hüte gleichzeitig trage ich nicht.

Welche Entwicklungen stellen Sie im Verhältnis mit der Trägerschaft fest?

David Kuratle: Ich empfinde unseren Vorstand in Bern extrem unterstützend.

Ida Stadler: Dies erleben wir auch in Biel. Wegen der seit Jahren sehr starken Auslastung der Beratungsstelle wurde dem Beratungsteam letztes Jahr eine Erhöhung der Stellenprozente angeboten. Aufgrund verschiedener aktueller wirtschaftlicher Komponenten haben die Beratenden momentan freiwillig darauf verzichtet.

Doris Hodel: Dass in unserer Beratungsstelle die Stellenprozente erhöht wurden, ist ein Signal dafür, dass die EPF im kirchlichen Bezirk Thun nicht infrage gestellt wird. Es berührt mich, wie viele Kirchgemeinden die Gottesdienstkollekte für die EPF ausrichten.

Gab es Veränderungen in der Strategie des Synodalverbandes, die die Arbeit in den EPF Beratungsstellen stark beeinflussten?

David Kuratle: Die Verankerung in der Kirchenordnung (Art. 80a), Eheleute, Familien und Partner zu begleiten, empfinde ich als Aufwertung und Zeichen der Wertschätzung. Es ist auch ein Signal: Eheberatung gehört zum Kerngeschäft der Kirche, wird nicht nur nebenbei gemacht. Das Verständnis hat sich gewandelt: verschiedene Tätigkeitsgebiete in Verkündigung, Diakonie und Unterricht werden als ebenbürtig betrachtet.

Barbara Richiger

Im Gespräch: Bernhard Schrittwieser, Ida Stadler, David Kuratle, Doris Hodel (vlnr).