Seelsorge in Entwicklung

Seelsorge ist Muttersprache der Kirche, eine Sprache, die Menschen auch dann noch sehr gut verstehen, wenn sie erwachsen sind und auf eigenen Beinen stehen. Denn das wird von Kirche erwartet: Sie soll dort präsent sein, begleiten, unterstützen, trösten, beraten, inspirieren, befreien, wo Krankheit, Armut, psychische Störungen, Einsamkeit, Tod und anderes Leiden Menschen zusetzen.

Seelsorge in der Kirchgemeinde

Seelsorge ist ein Lebenselement christlicher Gemeinde – auch im letzten Jahrzehnt. Das Pfarramt bietet einmalige Möglichkeiten, Menschen in kritischen Lebenssituationen zu begleiten: in der Einzelseelsorge, "auf der Schwelle" kirchlicher Veranstaltungen, ganz besonders auch im Zusammenhang mit den Kasualien. Gerade Beerdigungen, die auch in diesem Jahrzehnt weiterhin in grosser Zahl beansprucht wurden, bieten einzigartige Möglichkeiten, Menschen zu begleiten, deren Leben oft in seinen Grundfesten erschüttert ist. Ähnliches gilt von den Spitalbesuchen der Gemeindepfarrerinnen und -pfarrer, die nicht nur einen Hauch Heimat in die fremde Welt des Spitals tragen, sondern zuhören können und dabei manches erfahren, was sonst im Alltag kaum gesagt würde.

Seelsorge ist aber mehr als das, was Pfarrerinnen und Pfarrer tun. Versteht man Seelsorge in einem weiten Sinn, dann können auch die Nachbarschaftshilfe und die Besuchsdienste, die in vielen Kirchgemeinden aufgebaut wurden, dazu gezählt werden. Zudem werden die Schnittstellen mit anderen Mitarbeitenden der Kirchgemeinden, beispielsweise im sozialdiakonischen Dienst, zunehmend wichtig. Manche Kirchgemeinde leistet durch einen Ausbau der Familienarbeit oder durch themenspezifische Bildungsangebote (z.B. zum Thema Depression) Beiträge zur Prävention in einem weiten Sinn.

Die genauere Umschreibung der zeitlichen Präsenz und der Aufgaben von Pfarrerinnen und Pfarrern hat zum einen dazu geführt, dass Seelsorge als "Knautschzone" im pfarramtlichen Kalender noch gefährdeter ist, zum anderen aber auch dazu, dass in vielen Kirchgemeinden klarere Schwerpunkte gesetzt wurden und in diesem Zusammenhang auch die Seelsorge an bestimmten Zielgruppen (z.B. jungen Familien oder alten Menschen) verstärkt wurde.

Seelsorge im öffentlichen Raum

Seelsorgerinnen und Seelsorger wirken aber auch in einer weiteren Öffentlichkeit und tun dies heute sehr viel stärker. Rund 180 Milizionäre wirken aktuell als Notfallseelsorgende im Care Team des Kantons Bern mit, welches im Jahr 2000 ins Leben gerufen wurde. 12 Notfallseelsorgerinnen und Notfallseelsorger, sowie 11 Care Giver bilden das Care Team im Kanton Solothurn. Sie bieten psychosoziale und seelsorgliche Hilfe in Notfällen an und tragen zur Verhinderung posttraumatischer Belastungsstörungen bei. Im vergangenen Jahrzehnt wurden in den Spitälern, Kliniken, Kranken- und Altersheimen Seelsorgestellen neu geschaffen oder ausgebaut. Seelsorge leistet hier einen wichtigen Beitrag zur einer umfassenden Begleitung kranker, chronisch kranker und hochbetagter Menschen. In der "Palliative Care", die heute auch vom Bund gefördert wird, werden neben den körperlichen, psychischen und sozialen Bedürfnissen zunehmend auch die spirituellen Bedürfnisse gewürdigt. Seelsorge ist hier gefragt. Seelsorgende werden aber auch durch ihre Arbeitskolleginnen und -kollegen aus anderen Berufsgattungen beansprucht. In allen diesen Arbeitsbereichen ist die Sensibilität für die Qualitätssicherung gestiegen. Insbesondere im Bereich der Alters- und Krankenheimseelsorge wurde im vergangenen Jahrzehnt im Kanton Bern die Weiterbildung verstärkt. Seelsorgende sind angehalten, ein von der Universität Bern verliehenes Zertifikat zu erwerben.

Grosse Herausforderungen bietet die Seelsorge an grossen Spitälern wie dem Inselspital in Bern. Dringlicher wird hier danach gefragt, welche nachweisbaren Leistungen Seelsorge (auch im Vergleich mit anderen Berufen im Gesundheitswesen, z.B. den Psychologen) erbringt, wie die Bedürfnisse nicht-christlicher Patientinnen und Patienten berücksichtig werden können und wer jenen Menschen Beratung in existentiellen Fragen anbietet, die nicht mehr zur Kirche gehören. Ähnlich ist dies in der Gefängnisseelsorge, die im letzten Jahrzehnt ebenfalls professionalisiert und ausgebaut wurde. Auch hinter Gefängnismauern muss sich Seelsorge in einem Umfeld bewähren, das kulturell und religiös immer vielschichtiger wird. Es ist wichtig, dass die Kirche ihre Muttersprache nicht nur pflegt, wenn Fragen an ihr Wirken lauter werden, sondern weiter entwickelt und dazu ganz neue Sprachen lernt.

Christoph Morgenthaler

Christoph Morgenthaler.