Zunehmende Distanzierung, aber Kirche bleibt wichtig

Befinden wir uns in einer spät- oder postmodernen, pluralistischen oder antagonistischen Gesellschaft (vgl. Kasten 1)? Die verschiedenen Aspekte, welche diese unterschiedlichen Gesellschaftstheorien zum Ausdruck bringen, sind mehr oder weniger in allen westlichen Demokratien zu beobachten, auch in der Schweiz. Mit  Sicherheit lässt sich in den vergangenen Jahrzehnten ein grosser gesellschaftlicher Wandel beobachten, der eindeutig in Richtung vermehrter Pluralität geht: Die Koexistenz - und manchmal auch die Konkurrenz - von verschiedenen Werten, Lebensstilen, Kulturen und Subkulturen in der modernen Gesellschaft, was sich etwa auch im Ausdruck "multikulturelle Gesellschaft" niederschlägt. Diese zunehmende Vielfalt und Differenzierung erschwert es der Kirche, sich zu orientieren und einen Kurs mit klarem Ziel einzuschlagen. Trotzdem reagieren viele Kirchgemeinden mit neuen, angepassten Verkündigungsformen auf Entwicklungen in der Gesellschaft.

Megatrends wirken – auch auf die Kirche

Die sich wandelnden Werthaltungen der Individuen und deren Förderung oder Behinderung durch gesellschaftliche Konstellationen ergeben sogenannte Megatrends: grosse gesellschaftliche Veränderungen mit vielfältigen Effekten. Der Religionssoziologe Jörg Stolz hat Megatrends herausgearbeitet (1), welche erhebliche Auswirkungen auf die reformierte Kirche haben, unter anderen:

  • Individualisierung
  • Neue Lebensformen und Lebensstil-Milieus
  • Aufschwung säkularer Konkurrenten zu den Kirchen
  • Religiöse Pluralisierung und Zunahme der Konfessionslosen
  • Informationsgesellschaft und neue Technologien
  • Die Wiederkehr der Religion

Besonders hervorgehoben sei hier die Individualisierung, welche sich besonders in den 60er und 70er Jahren akzentuierte und auch heute noch im weit verbreiteten Wert und Drang nach Selbstverwirklichung zu beobachten ist. Aber auch die gesellschaftliche Differenzierung in verschiedene Milieus oder Subkulturen und die Zunahme weltlicher Konkurrenz zu den Kirchen (Psychotherapie statt Seelsorge, quasi-religiöse Massenevents…) beeinflussen zweifellos die Bindung weiter Bevölkerungsteile an die Kirche. Doch davon später.

Die Auswirkungen der Individualisierung sind bereits Ende des letzten Jahrhunderts untersucht worden, besonders durch Roland J. Campiche, inzwischen emeritierter Professor für Religionssoziologie, der 1993 zusammen mit Alfred Dubach die viel beachtete religionssoziologische Studie "Jede/r ein Sonderfall? - Religion in der Schweiz" (2) herausbrachte. 2004 machte er mit einem noch dickeren, knapp 400seitigen Buch auf "Die zwei Gesichter der Religion" (3) aufmerksam. Darin geht er einerseits der ungebrochenen Faszination durch "universelle Religiosität" nach; andererseits stellt er aufgrund seiner empirischen Forschungen eine "Entzauberung institutioneller Religion" fest: den Bedeutungsverlust v.a. der grossen Landeskirchen und des Christentums.

Einflussgrössen auf religiösen Glauben

Die wichtigsten sozialen Merkmale, die auf den religiösen Gauben einwirken, sind  gemäss Jörg Stolz (3), der sich auf Forschungen des nationalen Forschungsprogramms von 1999 bezieht:

  • das Alter
  • das Geschlecht
  • das Bildungsniveau
  • die Grösse des Wohnorts und
  • der ländliche oder städtische Kontext

Die Theorie der rationalen Wahl von religiösen Glaubensinhalten durch das Individuum lässt sich mit dieser Studie nicht nachweisen, jedoch bedeutende Zusammenhänge zwischen stark religiös sozialisierten Menschen und einer sehr deutlich höheren Wahrscheinlichkeit hoher Religiosität auch im Erwachsenenalter. Das Beispiel der religiösen Eltern entfaltet seine Wirkung jedoch nur dann, wenn religiöse Lebenshilfe in schwierigen Lebensphasen erfahren und als stichhaltig beurteilt wird.

Distanzierung von der Kirche

Zu bemerkenswerten Schlussfolgerungen kommt 2010/11 das Nationale Forschungsprogramm NFP 58, "Religionsgemeinschaften, Staat und Gemeinschaft", welches die Studienreihen von 1989 und 1999 fortsetzte. Der Befund: "Die Schweizer Bevölkerung distanziert sich immer mehr vom Christentum. Eine Mehrheit erachtet die beiden traditionellen Landeskirchen aber nach wie vor als wichtig für die Gesellschaft" (4).

Das Forscherteam des NFP 58 unterscheidet etwas holzschnittartig zwischen den folgenden vier wichtigsten Formen von Religionsbezug:

  • Bei den "Distanzierten" (64% der Befragten) ist Religion im Leben zwar präsent, nimmt aber keinen zentralen Platz ein.
  • Für die "Institutionellen" (17%) hat der christliche Glaube und die religiöse Praxis einen hohen Stellenwert. Meist sind es aktive Mitglieder der zwei Landeskirchen oder von Freikirchen.
  • Bei den "Säkularen" (10%) unterscheiden die Forscher diejenigen, die der Religion indifferent gegenüberstehen und jene, die sie generell ablehnen. Säkularisierung wird als abnehmende Bedeutung der Religion auf gesellschaftlicher und individueller Ebene verstanden.
  • Den "Alternativen" (9%) bedeuten ganzheitliche und esoterische Glaubensansichten und Praktiken besonders viel.

Die Anzahl der distanzierten Personen hat gemäss NFP 58 in den letzten Jahren stark zugenommen und dürfte weiter steigen (vgl. Kasten 2). Auch die Anzahl der Säkularen habe in den vergangenen 10 Jahren zugenommen. Abgenommen haben die Institutionellen, gleich geblieben ist der Anteil der Alternativen.

Distanzierte zahlen meist Kirchensteuern

Die knappe Zweidrittelmehrheit der Schweizerinnen und Schweizer, die sich von der Kirche distanzieren, glauben nicht nichts. Sie haben gewisse religiöse Vorstellungen und praktizieren gelegentlich. Religion bedeutet ihnen aber wenig. Sie gehören meist einer der grossen Landeskirchen an und zahlen Kirchensteuern. Oft glauben sie an eine höhere Macht oder Energie und fragen nach dem Sinn des Lebens.

Generell stellt die Studie eine Abnahme der institutionellen Religiosität der Schweizer Bevölkerung fest, welche zu einem grossen Teil auf die wachsende Konkurrenz der Kirche durch säkulare Institutionen zurückzuführen ist (Krankenhäuser, Psychologen, Hilfswerke, Wissenschaft usw.). Dazu kommen jenseits der Kirche die Suche im Alltag nach "kleinen Transzendenzen" (Religionssoziologe Thomas Luckmann), beispielsweise Hochgefühle im Sport, in der Natur oder bei kulturellen Events. Als Folge dieses Religionsverlusts fehlen der Kirche auf Dauer freiwillig Tätige und finanzielle Mittel für die soziale Arbeit. Schon jetzt zeigt sich hier in vielen Kirchgemeinden ein gewisser Mangel an Freiwilligen, besonders für anspruchsvolle Aufgaben wie diejenige des Kirchgemeinderates.

Bemerkenswert: Alle Typen finden Kirche wichtig

Alle vier Religionstypen erachten die christlichen Kirchen als wichtig für die Gesellschaft, besonders für sozial benachteiligte Personen. Eine weitere Studie im NFP 58 kommt für den Kanton Bern auf 60 Prozent der Befragten, die der Meinung sind, die Kirchen seien für sie und die Gesellschaft bedeutend. Ein weiteres, eher paradoxes Ergebnis: Die Kirchen sind gemäss diesen Umfragen wichtig – aber häufig nicht für sich persönlich, sondern für die anderen.

Alfred Dubach macht darauf aufmerksam, dass von den Werten, Zielen und Motiven die Volkskirchen dem so genannten kleinbürgerlichen Milieu nahe stehen (4). Das habe negative Konsequenzen: Die institutionelle Bindungskraft der Kirchen leide darunter, wenn sie zu einseitig mit einem Milieu verbunden ist, das erst noch von der Modernisierung bedroht ist.

Einseitige Ausrichtung auf traditionelle Milieus

Die einseitige Ausrichtung auf ein Milieu ist von anderen Forschungsansätzen auf verschiedene Milieus differenziert worden. Milieus sind grössere Gruppen von Menschen, die sich in Lebensauffassung, Grundorientierung, Werteprioritäten und Lebensstil ähnlich sind, sich also in einer ähnlichen sozialen Lage befinden. Die Sinus-Milieustudie der Kirchgemeinde Thun-Strättligen untersuchte im vergangenen Jahrzehnt die Milieuherkunft ihrer 14 000 Mitglieder (5).

Übervertreten in der Kirchgemeinde Thun-Strättligen sind demnach:

  • Statusorientierte und Arrivierte
  • Genügsam-Traditionelle
  • Bürgerliche Mitte 

Interessant sind die Milieus, die in Thun-Strättligen in der reformierten Kirche untervertreten oder kaum anzutreffen sind, nämlich unter anderem konsumorientierte Arbeiter und "moderne Performer", also effiziente junge Menschen mit hohem Bildungsgrad, die global denken, sich als stilistische Avantgarde verstehen und nach Selbstverwirklichung streben. Als gesellschaft-liches Leitmilieu ist die Absenz dieses Milieus in der Kirche besonders schmerzlich. Die Kirche hat vergleichbar dazu oft den Kontakt auch zu anderen jungen Milieus verloren.

Moderne Formen: Die Kirche passt sich an

Trotzdem besteht kein Grund zu Grossalarm, mindestens in den reformierten Kirchen Bern, Jura und Solothurn, die immer noch 650 000 Mitglieder zählt (vgl. Kasten 2). Die Finanzkraft geht weniger zurück als die Mitglieder und viele Kirchgemeinden scheuen sich nicht vor Innovation. Sie suchen Kontakt auch zu kirchenfernen Milieus, beispielsweise mit neuen Veranstaltungsformen: Gottesdienste für Zweifler ("Thomasgottesdienste"), mit Schriftstellern und Politikern, Gottesdienste mit Elementen der Jugendkultur, mit Bands und Rappern. Dazu kommen die beliebten "Fiire mit de Chline" und spezielle Veranstaltungen mit Entlastungseffekt für Mütter, Väter und ihre Kinder, die ebenfalls meist recht gut besucht werden. Viele weitere neue Formen wären hier zu nennen.

Festzustellen ist zudem ein weit gehender Konsens für die religiöse Erziehung der Kinder, zumindest bei denjenigen Menschen, die noch in der Kirche sind, aber auch bei vielen, die eine gewisse Distanz zur Kirche haben. Zwar bekommen immer weniger Kinder eine biblische Gut-Nacht-Geschichte zu hören, aber die von Refbejuso pädagogisch hoch stehend modernisierte kirchliche Unterweisung KUW, die nun bereits in den unteren Schulklassen beginnt, fängt doch einiges auf und stösst auf breite Zustimmung.

Mehr und bessere Kommunikation und Vernetzung

Nicht wenige Pfarrer bemühen sich um eine zeitgemässe Sprache. Die symbolische Bedeutung der Bibel wird mit Bezügen zur Gegenwart aktualisiert. Um dem drohenden Bedeutungsverlust entgegenzuwirken ist Gegenwartsbezug angesagt: Einmischung in grosse nationale Debatten über Raumplanung, Ökologie, Energie, Integration und Sozialwerke.

Die Kirchen sollen – und sie kann dies auch, wie Beispiele zeigen – vermehrt mit Menschen mit eigenverantwortlichem Lebenshabitus kommunizieren, die an einem offenen und gleichberechtigten Dialog mit der Kirche interessiert sind, nicht aber an vorgegebenen Antworten. Gegenüber Menschen in kritischer Distanz zur Kirche sind spezielle Kommunikationsgefässe nötig, aber auch die Vernetzung unterschiedlicher Mitgliedschaftstypen. Auf einen kurzen Nenner gebracht: Die Volkskirche ist gut beraten, sich vermehrt für verschiedene Milieus und deren unterschiedliche Motive zu öffnen.

Duales Gesicht der Religion

Heute ist Religion dual, zeigt zwei Gesichter. Zur institutionellen Religiosität gesellt sich "eine universale Religiosität, welche komplexeren und weniger fassbaren Regeln gehorcht" (Campiche). Das Gegenstück zum religiösen Engagement ist nicht die entschiedene Distanzierung vom Religiösen, ein Nicht-Gaube also, sondern vielmehr die Zuwendung zu existenziellen Fragen nach dem Glauben, eine Suche ausserhalb religiöser Organisationen. Stolz erkennt dies im Megatrend der "Wiederkehr des Religiösen". Es zeigt sich hier ein wachsendes Wertesystem, das auf der Humanisierung der Gesellschaft abzielt.

Untersuchungsergebnisse zeigen, dass neben der zunehmenden individuellen Religiosität für die grosse Mehrheit der Schweizer institutionelle Religiosität eine Ressource für schwierige Zeiten und die grossen Ereignisse im Leben ist. Biografischen Wendepunkte werden auch von distanzierten Kirchenmitgliedern immer noch im Rahmen der Kirche rituell begangen und verarbeitet. Zudem lässt sich feststellen: Die Kirche hat ein grosses Vertrauenskapital, das weit über diese Kasualien hinausgeht.

Alfred Arm

Literatur

(1) Jörg Stolz, Demée Ballif: Die Zukunft der Reformierten. Gesellschaftliche Megatrends – kirchliche Reaktionen. Theologischer Verlag Zürich, 2010

(2) Alfred Dubach, Roland J. Campiche (Hrsg.): Jede/r ein Sonderfall? Religion in der Schweiz. NZN Buchverlag, Zürich 1993

(3) Roland J. Campiche: Die zwei Gesichter der Religion. Faszination und Entzauberung. Theologischer Verlag Zürich, 2004

(4) Forschungsresultate des nationalen Forschungsprogramms, NFP 58, Themenheft IV, Nov. 2011:  Die Religiosität der Christen in der Schweiz und die Bedeutung in der heutigen Gesellschaft.

(5) Gemäss Refbejuso. Siehe Link: www.refbejuso.ch

 

Pluralistische oder antagonistische Gesellschaft?

Fa. Befinden wir uns in einer pluralistischen Gesellschaft, in der die Macht nicht in einem Zentrum konzentriert ist, sondern auf verschiedene, voneinander relativ unabhängige Gruppen der Gesellschaft verteilt ist? Als Klassiker der Pluralismustheorie gilt der US-Politikwissenschaftler Robert Alan Dahl, der in seiner Fallstudie Who Governs? 1961 eine "Polyarchie", eine Vielherrschaft, erkennt, eine Annäherung an ein demokratisches Idealsystem, wo die gesamtgesellschaftlichen Entscheidungen zwischen den Einflussgruppen ausgehandelt werden.

Oder befinden wir uns in einer antagonistischen Gesellschaft, eine sich im Widerstreit von zwei gesellschaftlichen Hauptgruppen befindende Gesellschaft, die von Machtungleichgewichten und Beziehungen der politischen Über- und Unterordnung geprägt ist? Letzteres vertritt beispielsweise der Berner (später in Berlin dozierende) Soziologe Urs Jäggi. Die Vertreter der Pluralismus-These hätten es, so Jäggi, versäumt, ihr Gesellschaftsbild mit den verfügbaren Daten über die weit verbreitete sozialen Ungleichheiten, wie etwa der Einkommens- und Vermögensverteilung, zu konfrontieren. Von der mit dem Pluralismus in den 60er Jahren einhergehenden These von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" (Helmut Schelsky) spricht heute kaum jemand mehr, weil sie sich weder empirisch noch theoretisch halten lässt.

Refbejuso: Kirchenaustritte nehmen zu – aber nicht dramatisch

Fa. Die Anzahl der distanzierten Personen hat gemäss Nationalfondprojekt 58 in den letzten Jahren stark zugenommen und dürfte weiter steigen. Die Austrittsgründe 2010 aus einer reformierten Kirche in Bern, Jura oder Solothurn sind (gemäss www.refbejuso.ch):

  • Der hauptsächliche, ausdrücklich genannte Austrittsgrund ist bei 728 Personen "Distanzierung von der Institution Kirche"
  • Als zweitwichtigster Austrittsgrund geben 277 Personen die Finanzen (Kirchensteuern) an
  • Keine Angaben machten 3'226 Personen
  • Total ausgetreten sind 2010 im genannten Einzugsgebiet 4'367 Personen (Eintritte: 425).

Zehn Jahre vorher, im Jahr 2000, war die Zahl der Austritte knapp halb so hoch: 2'189 Austritte standen 298 Eintritten gegenüber.

Gesamthaft haben 2001 bis 2010 mehr als 31'000 Personen in den Kantonen Bern, Jura und Solothurn (oberer Kantonsteil) ihren Austritt aus der reformierten Kirche gegeben, 3'300 sind seit 2001 eingetreten (gemäss Zeitung "reformiert.")

Zum Mitgliederrückgang trägt auch die Migration bei: Es reisen mehr Reformierte aus dem Bernbiet ab, als neue hinzuziehen. Zudem ist die Zahl der Taufen seit Jahren deutlich kleiner als jene der Beerdigungen. Unter dem Strich ist der Mitgliederbestand der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn zwischen 2001 und 2010 total um gut 50'000 Personen zurückgegangen. Aber noch immer gehören 650'000 Frauen, Männer und Kinder den reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn an.

Frauen treten in den Kantonen Bern, Jura und Solothurn seltener aus der reformierten Kirche aus als Männer, die 20- bis 40-Jährigen wesentlich häufiger als ältere Menschen, Städter eher als Landbewohner. Diese Entwicklung korrespondiert mit der Einschätzung von Jörg Stolz, der das Profil des durchschnittlichen Austrittskandidaten so skizzierte: jung, männlich, urban, gebildet, eher links.